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Commentaires Juni 2024

Commentaires Nr. 33 

Frankfurt, 30. Juni 2024

 

Mit dem Ergebnis des ersten Wahlgangs der Parlamentswahlen in Frankreich werden die Trends der Europawahl verstärkt. Der Rechtsradikalismus legt in Frankreich zu, wie es schon bei den Europawahlen der Fall war. Auch in Deutschland legte die AfD trotz Skandale um ihre Spitzenkandidaten auf 15,6 % zu und ist nun kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg dort mit Abstand stärkste politische Kraft. Die Grünen hatten in Europa die stärksten Verluste: Umweltfragen spielten kaum eine Rolle, anders als bei den Wahlen 2019 die durch „Friday for future“ geprägt wurden. Vielmehr waren es nationale Themen wie die Rentenreform, die im Mittelpunkt standen. Das überraschendste Ergebnis der Europawahlen war jedoch die Auflösung des französischen Parlaments durch Emmanuel Macron. Diese Entscheidung ist konsequent, aber gefährlich.

 

Emmanuel Macron hoffte auf drei Verteidigungslinien, um größeres Übel zu verhindern. Die erste Verteidigungslinie sind die vorgezogenen Wahlen selbst. Anders als bei der Verhältniswahl der Europawahlen, werden die Abgeordneten der Assemblée nationale einzeln in 577 Wahlbezirken in zwei Wahlgängen gewählt. Im ersten Wahlgang ist die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen (und 25 % aller Wahlberechtigten) für den Wahlsieg erforderlich. Die Hoffnung, dass die verschiedenen Parteien im linken und konservativen Lager sich in der kurzen Zeit nicht auf gemeinsame Kandidaten einigen könnten, ist zum großen Teil gescheitert. Im linken Lager haben Sozialisten, Grüne, Kommunisten und die linksradikale Partei „Unbeugsames Frankreich“ („La France Insoumise“) überraschend schnell eine „Neue Volksfront“ („Nouveau Front Populaire“) gebildet, in Anspielung auf den Front Populaire, der 1936 den ersten bezahlten Urlaub eingeführt hatte. Sie erhalten mit 28 % der Stimmen das zweitbeste Ergebnis. Der Rassemblement National (RN) hat mit über 33 % seine Spitzenposition der Europawahlen um 2 % ausbaugebaut. Macron hoffte seine Kandidaten als beste Alternative zum Rechtsradikalismus zu positionieren:  diese sind aber mit 21 % der Stimmen nur drittplatziert.

 

Am 7. Juli findet der zweite Wahlgang statt, bei welchem es darum geht, ob der RN die absolute Mehrheit im Parlament erreicht. Die Zersplitterung des Parteiensystems hat dazu geführt, dass sich in jedem dritten Wahlbezirk drei Kandidaten qualifizieren dürfen. Die erste Frage ist nun, ob die Parteien über die ideologischen Gräben springen wollen, um eine Front gegen den RN zu bilden. Das Macron-Lager und das linksradikale Bündnis haben sich dazu entschlossen: ist einer ihrer Kandidaten drittplatziert, soll er sich zu Gunsten des besser platzierten Kandidaten zurückziehen, um den RN-Kandidaten zu besiegen. Die konservativen Republikaner bleiben gespalten: 62 Kandidaten folgten im ersten Wahlgang dem Parteipräsidenten Eric Ciotti und gingen ein Wahlbündnis mit dem RN ein. Die große Mehrheit der republikanischen Kandidaten aber stellte sich gegen den RN- Kandidaten auf. Diejenigen, die drittplatziert sind, müssen sich nun fragen ob sie sich zu Gunsten eines besser Platzierten Kandidaten des Macron-Lagers oder des linken Lagers zurückziehen.

 

Am wahrscheinlichsten ist somit, dass der RN die absolute Mehrheit im Parlament zwar verfehlt, aber die größte Fraktion stellt und auf weitere abtrünnige Republikaner hofft. Emmanuel Macron hofft seinerseits auf eine „republikanische Front“ im Parlament mit allen sonstigen Parteien und einem konsensfähigen Premier Minister.

 

Dann käme die zweite Verteidigungslinie zum Tragen: der französische Präsident verfügt über bedeutende Rechte (z.B. Artikel 5 und 15 der Verfassung). Er bestimmt die Außen-und Sicherheitspolitik, gibt nicht nur seine Unterschrift, sondern ernennt die Hohen Beamten und ist „Garant der Institutionen“: in dieser letzten Funktion verweigerte François Mitterrand die Verabschiedung des ein oder anderen Gesetzes während der ersten „cohabitation“, nicht aber die Privatisierung der von ihm zuvor verstaatlichten Unternehmen.

 

Die Umsetzung der Wirtschaftspolitik des RN (oder der Volksfront) wäre gefährlich. Die Angst, dass es dazu kommen könnte, wächst: die Rentenreform würde erneut gekippt und das Rentenalter auf 60 Jahre gesenkt, die Mehrwertsteuer auf Energieprodukte auf 5,5 % gesenkt, die unter 30-Jährigen würden von der Einkommens-steuer befreit…Programme, die Defizite noch deutlich über die aktuellen 5,5 % ausweiten würden. Und dies, obwohl die EU-Kommission gerade gegen Frankreich (und 6 weitere Staaten) ein Defizitverfahren eingeleitet hat.  Die Zinslast der wachsenden Verschuldung würden steigen und die Haushaltsspielräume weiter einschränken. Schon jetzt ist der Zinsunterschied zum deutschen Bund von 30 auf 80 Basis-Punkte gestiegen.

 

Auch Unternehmen würden mehr für ihre Kredite zahlen müssen und ihre Wettbewerbsfähigkeit wäre entsprechend geschwächt. Bauunternehmen fürchten um ihre Arbeitskräfte (30 % sind Ausländer). Die Tourismus-und Luxusbranchen fürchten den schlechteren Ruf, die Immobilienbranche die gestiegenen Zinsen und der Handel eine verschlechterte Kaufstimmung. All dies würde nach drei Jahren des wirtschaftlichen Misserfolgs dazu führen, dass Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl verliert. Der Traum wäre ausgelebt und geplatzt, so die Hoffnung.

 

Europa wäre weiter gespalten und somit geschwächt. Insbesondere gegenüber Russland wäre die Handlungsfähigkeit erschwert: Russland hat den RN (wie auch die AfD) finanziert. Auch die Definition einer europäischen Verteidigungspolitik und der Abbau von ungewünschten wirtschaftlichen Abhängigkeiten wären erschwert.

 

Dabei hat der im April vorgestellte „Letta-Bericht“ zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit gezeigt, dass insbesondere in den Bereichen Energie, Kommunikationsnetze und Finanzdienstleistungen grenzübereschreitend agiert werden muss. Wie groß die Herausforderung ist, zeigt der Telekom-Bereich: Ein chinesisches Telekom-Unternehmen kann seine Innovationskosten auf 450 Millionen Verbraucher, ein Amerikanisches auf 150 Millionen und ein Europäisches auf nur…7 Millionen verteilen.

 

Auch die europäische Haltung im Ukraine-Krieg wäre demzufolge erschwert, und dies zu einem Zeitpunkt der immer wahrscheinlicher werdenden Wiederwahl von Trump in den USA. Anzumerken ist, dass Europa nun die Ukraine deutlich mehr unterstütz als die USA, und Frankreich schon jetzt dabei nur eine kleine Rolle spielt.

 

Ukraine-Hilfe (Zahlen in Mrd. Euro)

Insgesamt Finanziell Humanitär Militär
USA 105,9 33,3 2,8 69,8
UK 17,6 6,5 0,6 10,5
EU insgesamt 162,3 90,3 10,4 61,7
EU 85,3 82,8 2,5
Deutschland 24,7 1,5 3,3 20,0
Frankreich 7,3 0,9 0,4 6,1
Norwegen 8,0 3,6 0,4 4,0
Niederlande 11,6 1,1 1,2 9,3
Dänemark 10,0 0,1 0,3 9,6

Quelle: Kieler Institut für Weltwirtschaft, Ukraine support Tracker, Daten per 30. April 2024

 

Ob es dem deutsch-französischen Sportsommer gelingt (Fußball-EM hier, Olympischen Spiele dort), die Gesellschaften zu kitten bleibt offen, insbesondere in Frankreich, welches mit Kater erwacht.

 

Der Hoffnungsschimmer kommt aus Brüssel, insofern gerade noch rechtzeitig eine Koalition zwischen Christdemokraten der EVP, Sozialdemokraten und Liberalen geschmiedet werden konnte, um der neuen Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen eine stabile Mehrheit zu sichern.

 

Es gilt der Spruch von Hannah Arendt: „Der beste Weg, um die Zukunft zu kennen, ist Versprechen zu machen, die eingehalten werden.“

 

Christophe Braouet

 

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