Commentaires Juni 2025
Commentaires Nr. 37
Frankfurt, 30. Juni 2025
Die Sterne stehen so günstig wie schon lange nicht mehr: Der frisch gewählte Bundeskanzler Friedrich Merz beschwört gerne eine größere europäische Souveränität, die dem scheidenden Emmanuel Macron am Herzen liegt. Es ist dringend notwendig, die Chance der neuen Gegebenheiten zu nutzen. Denn das internationale Umfeld ist günstig, mit Donald Trump, der Deutschland dazu bringt, die Beziehungen zu seinem großen amerikanischen Bruder zu hinterfragen. Friedrich Merz, der zehn Jahre lang den Vorsitz des wichtigsten deutsch-amerikanischen Thinktanks, der Atlantik-Brücke, innehatte, spricht von nachhaltigen Veränderungen der transatlantischen Beziehungen, die sich in mehr Europa niederschlagen müssen.
Der politische Kontext in Frankreich ist ebenso günstig. Jeder denkt darüber nach, schärft seine Waffen, um sich zu positionieren: Emmanuel Macrons Nachfolger muss gefunden werden. Er darf aufgrund der verfassungsrechtlichen Beschränkung auf zwei Amtszeiten nicht bei den französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2027 antreten.
Die traditionelle Rechte zerbröckelt und findet zu ihrer historischen Struktur zurück. Symbolisch wählte Dominique de Villepin den 18. Juni – den Tag des Aufrufs zum Widerstand von General de Gaulle im Jahr 1940 – um die Gründung seiner neuen Partei „La France humaniste“anzukündigen: somit sind es nun schon drei Parteien mit den Republikanern (Bruno Retailleau hatte den Vorsitz nur knapp gegen Laurent Wauquiez gewonnen) und der Partei „Horizons“ des ehemaligen Premierministers Edouard Philippe, dem es auch fünf Jahre nach seinem Ausscheiden als Premier Minister gelingt mit 41 % der populärste Politiker zu bleiben.
Auch die traditionelle Linke ist weiterhin gespalten. Der ehemalige 36 Jahre alte Premierminister Gabriel Attal hofft eine Rolle spielen zu können: mit 37 % positiver Meinungen ist er auf Platz 3 der beliebtesten Politiker. Raphael Glucksmann hatte Hoffnungen auf eine sozialdemokratische Erneuerung des französischen Sozialismus geweckt, als er bei den letzten Europawahlen 14 % der Stimmen für die Sozialisten holte. Aber es gelingt ihm (noch?) nicht, sich gegen Olivier Faure durchzusetzen, der seit 2018 Vorsitzender der Partei von François Mitterrand ist, ohne wirklich geschätzt zu werden. Er hat gerade mit nur 50,9 % Nicolas Mayer-Rossignol den noch weniger bekannten Bürgermeister von Rouen geschlagen. Während die Sozialisten sich neu organisieren und der ehemalige Präsident François Hollande in den Startlöchern steht (er ist erneut der beliebteste Politiker der Linken), hoffen die Grünen und die Kommunisten, davon profitieren zu können.
Diese Uneinigkeit – sowohl rechts wie links – spielt (vorerst) den Populisten der radikalen Rechten und Linken in die Hände. Jean-Luc Mélenchonkommt auf 13 % und ist nach wie vor der einzige Kandidat der Linken, der eine Chance hat, in die zweite Runde zu kommen, obwohl er 2027 seinen 76. Geburtstag feiern wird und in der Wählergunst stark an Zuspruch verloren hat. Der Sozialist Olivier Faure, die Ökologin Marine Tonnelier und der Kommunist Fabien Roussel würden weniger als 5 % erreichen. Am anderen Ende des Spektrums tut Marine Le Pen so, als gäbe es kein Wahlverbot, obwohl sie wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zu fünf Jahren Unwählbarkeit verurteilt wurde. Damit folgt sie der altbekannten Rhetorik rechtsextremer Populisten auf der ganzen Welt, die wie der ebenfalls verurteilte Donald Trump behaupten, dass das einzig gültige Urteil, das des Volksvotums sei. Für Emmanuel Macrons ist diese Kulisse die letzte Chance, seine europäischen Projekte zu verwirklichen.
Deutschland hat seinerseits alle Trümpfe in der Hand, um wieder zur Lokomotive Europas zu werden. Mit einer neuen Regierung kommt es aus einer zweijährigen Rezession, der längsten seit Gründung der Bundesrepublik. Die öffentlichen Finanzen sind mit einer Verschuldung von 62 % des BIP gesund; die Sondervermögen von 900 Milliarden Euro geben ausreichend Spielraum, um Verteidigung und Infrastruktur zu finanzieren.
Die Verschuldung Frankreichs (113 % des BIP) ist fast doppelt so hoch wie die Deutschlands. Um das Vertrauen von Friedrich Merz zu gewinnen, muss Frankreich seine öffentlichen Finanzen sanieren und allein 2026 40 Milliarden Euro einsparen. Dies zum Zeitpunkt steigender Militärausgaben, und den von der Europäischen Kommission hervorgehobenen kostspieligen Herausforderungen. Es ist zwar ermutigend, dass diese der Ansicht ist, dass Frankreich mit der Sanierung seiner öffentlichen Finanzen weitgehend auf Kurs ist. Sie erinnert jedoch an die viele Herausforderungen, an deren Spitze die schwerfällige Verwaltung steht, und nennt als Beispiel die für sie kostspielige und ineffiziente Steuergutschrift für Forschungszwecke. Die Kommission befürchtet außerdem, dass Frankreich das Ziel der Reduzierung der Treibhausgasemissionen verfehlen könnte, da sich erneuerbare Energien zu langsam entwickeln. Das größte Problem ist aber aus ihrer Sicht das Bildungssystem. Es verstärkt die Ungleichheiten, mit zu schlecht bezahlten Lehrern und dem wachsenden Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern, welches in Frankreich stärker ausgeprägt ist als im Rest der Union.
Die Kosten für den amerikanischen Atomschutzschild sind zugleich erheblich gestiegen. Die NATO-Mitgliedstaaten (mit vorläufiger Ausnahme Spaniens) haben am 24. Juni auf dem NATO-Gipfel in Den Haag beschlossen, ihre Militärausgaben auf 3,5 % des BIP zu erhöhen, zuzüglich 1,5 % für strategische Infrastrukturen (Brücken, Straßen, Digitalisierung usw…). Das ist der Preis, um den Schutz des amerikanischen Atomschirms zu erhalten, ohne Garantie jedoch, dass dieser auch in Zukunft bestehen bleibt. Nun müssen die Europäer, allen voran die Deutschen, verinnerlichen, dass die Vereinigten Staaten – mit oder ohne Trump – sich auf die chinesische Bedrohung im pazifischen Raum konzentrieren wollen, der bevölkerungsreicher und weitaus wohlhabender ist: allein Indien, Japan und Indonesien haben zusammen ein größeres Gewicht als Europa.
Es ist daher nicht überraschend, dass der Beitrag der Vereinigten Staaten zur Verteidigung der Ukraine seit Anfang des Jahres auf null reduziert wurde– sowohl militärisch als auch finanziell . Soweit zum halb leeren Glas. Das halb volle Glas zeigt ein Europa, das in der Lage war, seine Beiträge zu erhöhen, die nun fast doppelt so hoch sind wie die der Vereinigten Staaten: Die tatsächlich von Europa gezahlten Hilfen belaufen sich auf 202 Milliarden Euro (119 Milliarden für die Vereinigten Staaten).
Ukraine-Hilfe Zusagen (in Mrd. Euro)
Insgesamt | Finanziell | Humanitär | Militär | |
USA | 119,0 | 50,0 | 3,4 | 65,6 |
UK | 27,3 | 6,2 | 1,0 | 20,1 |
EU insgesamt | 202,1 | 102,8 | 12,7 | 86,5 |
EU | 98,9 | 96,2 | 2,7 | – |
Deutschland | 15,9 | 1,4 | 3,2 | 11,3 |
Frankreich | 7,4 | 0,8 | 0,6 | 6,0 |
Polen | 5,1 | 0,9 | 0,5 | 3,7 |
Niederlande | 8,4 | 0,7 | 0,8 | 6,9 |
Dänemark | 9,5 | 0,1 | 0,8 | 8,6 |
Quelle: Kieler Institut für Weltwirtschaft, Ukraine support Tracker, Daten per 30. April 2025
Der EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius hat Recht, wenn er sagt: „450 Millionen Bürger der Europäischen Union sollten sich nicht auf 340 Millionen Amerikaner verlassen müssen, um sich gegen 140 Millionen Russen zu verteidigen, die 38 Millionen Ukrainer nicht besiegen können“.
Christophe Braouet