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Commentaires März 2024

Commentaires Nr. 32

Frankfurt, 31. März 2024

Sind wir Schlafwandler, oder gar erblindet, wie es Sylvie Kaufmann (Le Monde Journalistin) in ihrem sehr lesenswerten Buch behauptet? Fakt ist, dass die Chancen einer Wiederwahl von Donald Trump deutlich steigen und Putin in dieser Erwartung Europa vorführt. Schon 2005 erklärte er den „Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des XX. Jahrhunderts“; seither ist er bemüht die russische Vormacht in Osteuropa wiederherzustellen. Alles fing 2008 mit dem Georgienkrieg an, setzte sich mit der Annexion der Krim 2014 fort und gipfelte mit dem Angriff der Ukraine. Bis jetzt haben die USA uns vor Russland beschützt, wie seit dem „D-Day“, dessen 80. Jahrestag in wenigen Wochen gefeiert wird. Warum aber sollte das reiche Europa überhaupt noch von den USA unterstützt werden?

Während Macron in Prag am 6. März abermals behauptete, es sei höchste Zeit uns strategisch wachzurütteln, spricht der Fraktionsvorsitzende der SPD vom Einfrieren des Kriegs. Großbritannien und Frankreich liefern seit dem Sommer 2023 Mittelstrecken-Raketen des Typs Storm Shadow, bzw. Scalp mit einer Reichweite von ca. 300 Kilometern: insgesamt 400 – 600 Raketen, die es ermöglicht haben, gezielt sensible russische Infrastruktur, z.B. auf der Krim zu zerstören. Die Lieferungen erfolgten im Stillen und wurden von Putin nicht als Eskalation eingestuft. Ganz anders schwören Olaf Scholz und Ralf Mützenich mit der Diskussion um die Taurus-Raketen eine solche Eskalation herbei! Scholz ergänzte: „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden. Das weiß auch jeder, der sich mit diesem System auseinandergesetzt hat.“

Der Ukraine-Krieg erinnert an die gesellschaftliche Spaltung zu Zeiten des Nato-Doppelbeschluss: Helmut Schmidt behauptete sich gegen den Druck der Friedensdemonstrationen gegen die Pershing II-Raketen- der amerikanischen Antwort auf die russischen SS 20. Es waren die größten Friedensdemonstrationen seit Kriegsende (an denen übrigens auch Olaf Scholz teilnahm), und … die Geburtsstunde der Grünen. Mit dem Mauerfall folgte eine lange Zeit der Entrüstung: das „Ende der Geschichte“ schrieb Fukuyama. Es folgten zwei bedingende Vorläufer des jetzigen Kriegs. Mit dem „Budapest-Memorandum“ übergab die Ukraine Russland ihre Atomwaffen und Deutschland (gefolgt von Frankreich) verhinderte 2008 den NATO-Beitritt der Ukraine.

Heute ist alles anders. Die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Schutzschildes wurde von Trump ausdrücklich in Frage gestellt. Welches Land meinte er, als er vor Kurzem sagte „Sie haben nicht bezahlt? Sie sind säumig? Nein, dann würde ich sie nicht beschützen. Ich würde sogar Russland dazu ermutigen zu tun, was auch immer es will“. Eventuell Deutschland, welches 2023 nur 1,6 % des BIP für seine Verteidigung ausgegeben hat?

Der NATO-Oberbefehlshaber ist immer ein amerikanischer General. Würden die USA ihre Bevölkerung für Balten oder Deutsche riskieren? Können wir vom amerikanischen Schutz abhängig bleiben, Trump hin oder her? Es geht um die Verteidigung Europas per se.

Der Ukraine-Krieg belegt, dass Europa zur Abschreckung – konventionell wie nuklear – aufstocken muss. Das „NATO-Abschreckungssystem ist unvollständig oder wie Emmanuel Macron es formulierte, „hirntot“. Warum die große Aufregung, als er keine Mittel, auch nicht die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine ausschließen wollte. Dabei ist es die Essenz von Abschreckung den Gegner im Zweifel zu lassen. Genau deshalb haben Frankreich und Großbritannien, aller Verbundenheit zu den USA zum Trotz, eine eigene Atomwaffe.

Macron hat die „vitalen Interessen Frankreichs“ um eine „europäische Dimension“ erweitert und die Ausbreitung des französischen Schutzschirms zur Diskussion gestellt. 1954 scheiterte die Europäische Verteidigungsunion an Frankreich. Nun sollte die „strategische Autonomie Europas“ nicht an Deutschland scheitern. Derzeit befürworten nur die Wähler der Grünen mehrheitlich die Lieferung von Taurus-Raketen. 60 % der CDU-Wähler, 70 % der SPD sind dagegen (Forsa für RTL am 15. & 18. März 2024).

Die Befürwortung einer unabhängigeren europäischen NATO-Säule dürfte mit dem Beitritt von Finnland und Schweden gestärkt werden. Bemerkenswert ist, dass das so lange neutral gebliebene Skandinavien heute die Ukraine so unterstützt wie Deutschland (siehe Tabelle). Wir dürfen uns freuen, dass die europäische Militärhilfe an die Ukraine schon jetzt die der USA übertrifft.

Ukraine-Hilfe (Zahlen in Mrd. Euro)

Insgesamt Finanziell Humanitär Militär
Insgesamt 276,9 128,6 17,3 107,5
USA 68,7 24,0 2,5 42,2
UK 15,7 6,0 0,6 9,1
EU inkl. Mitgliedsstaaten 144,1 85,4 9,1 49,7
Deutschland 22,1 1,4 3,0 17,7
Frankreich 1,8 bzw. 8 0,8 0,4 0,6 bzw. 6,8 (*)
Skandinavien 21,8 3,9 1,5 16,2
Dänemark 8,8 0,1 0,2 8,4
Norwegen 7,6 3,4 0,4 3,8
Schweden 3,3 0,3 0,7 2,2
Finnland 2,1 0,1 0,2 1,8

Quelle: Kieler Institut für Weltwirtschaft, Ukraine support Tracker, Daten per 16. Februar 2024
(*) Frankreich selbst gibt 6,8 Mrd. Euro Militärausgaben und nicht 600 Mio. in seinem Parlamentsbericht an.

Eine eigenständige Verteidigung braucht eine unabhängige Rüstungsindustrie. Dies liegt auch im Interesse der Verteidigung von europäischer Technologie, stärkt die europäische Handelsbilanz und den hiesigen Arbeitsmarkt. Diesem Ziel entspricht der endlich am 20. März erfolgte Beschluss den Kampfpanzer der Zukunft MGCS gemeinsam zu bauen und der Vorschlag der EU einen Kommissar hauptamtlich mit Rüstungsfragen zu beauftragen, der nationale Interessenskonflikte schlichten kann.

Es ist kein Wunder, dass Russland gerade jetzt vor den Europawahlen versucht unsere Demokratien zu spalten. So die Veröffentlichung von abgehörtem deutschem Generalgesprächen, die „Fake“ Berichte über Bettwanzen in Paris (just vor der Olympiade) und die Aufdeckung eines russischen Desinformationsnetzwerks in Frankreich Mitte Februar. Die Europawahlen vom 6 bis 9. Juni werden die Zersplitterung der politischen Landschaft und die Stärkung der „nationalkonservativen“ Bewegungen bestätigen. In fünf der sechs größten EU-Staaten erhalten Nationalkonservative mehr als 20 % der Stimmen und die Erfolge von Meloni in Italien, Wilders in den Niederlanden und Ventura in Portugal sollen auf EU-Ebene umgemünzt werden: Auswirkungen wird es insbesondere in Fragen der Zuwanderung, der wirtschaftlichen Abschottung, der Pressefreiheit und der Haltung zu Nahost und Russland geben.

Schon 2019 wurden 148 rechtsradikale Abgeordnete gewählt: nur weil sie sich nicht auf eine Linie einigen konnten, kam es zu zwei Fraktionen. Schon beim NextGeneration EU-Fund fangen die Meinungs- verschiedenheiten an. Italien und Polen kommt er zugute; AfD und Rassemblement National verweigern diese mit Solidarität begründete „nationale Verarmung“. Der Rückblick in die 20er und 30er Jahre schreckt auf. Die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) und die NSDAP erhielten 1928 zusammen „nur“ 17 % (die NSDAP nur 2,6 %) der Stimmen. 1932 waren es schon 43 %. So viel zu den Schlafwandlern.

Erstmals dürfen (nur in Deutschland) 16-Jährige wählen gehen. Der Brexit wurde von der britischen Jugend ermöglicht: obwohl überwiegend pro-europäisch blieb sie zu Hause und muss nun das Ergebnis leben.

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Christophe Braouet