Adickesallee 13 | 60322 Frankfurt am Main  +49 (0) 176 422 701 26

Commentaires Schumann

9. Mai 2020: Liebe Mitglieder der Deutsch-Französischen Gesellschaft,

gestern war der 75. Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs. Schon 5 Jahre danach hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine bahnbrechende Rede, welche die europäische Integration einläutete. Heute befindet sich Europa in der größten Rezession seit 1929, die zu einer wesentlichen Erhöhung der Auslandsverschuldung führt: im Euroraum dürfte sie im gewichteten Durchschnitt von 105 auf deutlich zu hohe 122 % steigen.

Für zusätzliche Spannung sorgt, dass die südeuropäischen Staaten, deren Schuldenquoten schon vor der Krise überdurchschnittlich hoch waren, nun die höchsten Staatsdefizite haben: nennenswerte Ausnahme ist Griechenland. Außerdem rutscht Frankreich mit einer Verschuldung von ca. 120 % ins Lager der Südstaaten. Die nord-und osteuropäischen Staaten haben hingegen eine geringere Verschuldung und ihre Rezession ist zwar bedeutend, aber begrenzter. Nun wünschen die Südeuropäer Solidarität, Nord-und Osteuropäer zögern.

Es kommt erschwerend hinzu, dass Corona nicht auf Europa-Ebene bekämpft wird, sondern jedes Land zunächst an seine eigene Bevölkerung denkt und seine Grenzen geschlossen und die Ausfuhr von medizinischem Equipment an Drittländer (auch der EU) gestoppt haben… 

70 Jahre sind lange her … Der Marshall-Plan (2 Jahre nach Kriegsende) und die „Schwedenspeisung“, die von Robert Schuman angekündigte Montanunion (nur 1 Jahr nach Gründung der BRD) und nicht zuletzt die Londoner Schuldenvereinbarung von 1953, mit welcher Deutschland über 50 % der Auslandsschuld erlassen wurde, waren Ausdruck von Solidarität und Grundlage des  darauf folgenden Aufschwungs. Die Rechnung ging auf.

Vor 70 Jahren half man Deutschland, jetzt benötigen Italien, Spanien und vielleicht auch Frankreich Unterstützung. Es ging damals darum Absatzmärkte zu sichern, heute geht es darum den europäischen Binnenmarkt zu verteidigen. Warum soll die Rechnung nicht wieder aufgehen? 

Unser Gesellschaftsmodell und die soziale Marktwirtschaft müssen im Wettbewerb zu China und den USA als Ausdruck von gewollter Solidarität verteidigt werden. In Europa sind die allermeisten für ein Auffangnetz für Menschen in Not und nehmen dafür ein deutlich höheres Niveau an Sozialausgaben in Kauf. Das deutsche Kurzarbeitermodell wurde z.B. zur Blaupause für viele andere europäischen Staaten, nicht so für die USA. Mit Corona sind in wenigen Wochen über 30 Millionen Menschen arbeitslos geworden und haben in der Folge ihre Krankenversicherung verloren. 

Kein Europäer möchte sein Gesundheitssystem gegen das amerikanische eintauschen: als Obama sein „Affordable Care Act“ einführte hielten dies die meisten Republikaner für Einführung des Kommunismus…Dabei war es nichts anderes als die Sicherstellung einer Mindestversorgung aller Bürger, so wie es in Europa der Fall ist. 

Am 10. April sagte Frank-Walter Steinmeier: „Die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Ich glaube: Wir stehen jetzt an einer Wegscheide. Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können. Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder bleibt das neu erwachte Engagement für den anderen und für die Gesellschaft? (…) Suchen wir auf der Welt gemeinsam nach dem Ausweg oder fallen wir zurück in Abschottung und Alleingänge?“ Nur als europäische Gemeinschaft kann diese Sichtweise gegenüber Trump oder China verteidigt werden.

In Europa geht es doch um viel mehr als nur um eine mathematische Gleichung: die meisten unter uns waren über das „I want my money back“ empört. Es geht darum Europa auf dem Weltmarkt zu behaupten, eine größere Unabhängigkeit in strategischen Wirtschaftsbereichen wie der Automobil- und Pharmabranche, der Digitalisierung, der europäischen Umwelttechnologie zu verteidigen. Robert Schuman drückte die Solidaritätserfordernis wie folgt aus:

„Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen (…) Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. (…) Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. (…) Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.“ (…)  Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.“ 

Dies wurde schon 5 Jahre und einen Tag nach dem Ende des 2. Weltkriegs gesagt. 

Wie es Emmanuel Macron schon in seiner Sorbonne-Rede vorgeschlagen hat, muss die Definition von Souveränität der neuen Weltordnung angepasst werden. Nur auf europäischer Ebene sind Antworten zur Reduzierung der ausländischen Abhängigkeit der Produktionsketten oder der demografischen Entwicklung in Afrika zu finden. Die Bevölkerung wird dort in den kommenden 20 Jahren um 500 Millionen wachsen. Ziel der Entwicklungspolitik muss sein, Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen. Auch die Flüchtlingsströme machen eine europäische Lösung erforderlich. 

Eine Stärkung der EU und ihres Haushalts ist unerlässlich, um uns als Europa in der Welt zu behaupten und unser Gesellschaftsmodell zu sichern. 

Dafür muss Europa gestärkt und als Einheit aus der Krise hervorgehen. Dies kann durch einen neuen Marshall-Plan gelingen und wäre die schönste Würdigung eines Robert Schuman!

Christophe Braouet