Wir brauchen einen neuen Marshall Plan!
6. April 2020: Ja, wir brauchen einen neuen Marshall Plan!
Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, hat in einem Artikel in der Welt am Sonntag 5. April einen Marshall-Plan für Europa gefordert. Sie hat vollkommen recht.
Das (wirtschaftliche) Ausmaß der Corona-Krise ist noch nicht abzuschätzen, hängt es doch von der Dauer der Kontakteinschränkungen ab: je länger diese dauern, desto größer die Zahl der Unternehmen, die Konkurs anmelden müssen. In den USA, wo alles schneller geht, wird eine Arbeitslosigkeit von 30 Millionen Menschen für möglich gehalten, mehr als nach der Fi- nanzkrise, und es werden erste Vergleiche mit der großen Depression von 1929 diskutiert. Die USA haben jetzt schon ein Sanierungspaket von 2.000 Mrd. US-Dollar beschlossen.
In Europa ist das Ausmaß insbesondere für die öffentlichen Haushalte nicht kleiner, sondern größer, weil wir in Europa – eben ganz anders als in den USA – einen Sozialstaat für selbstverständlich und unentbehrlich halten. Die soziale Marktwirtschaft macht Europa aus, im Gegensatz zu den USA. Und diese muss nun verteidigt und geschützt werden.
Daher ist der Ruf nach einem Marshall-Plan nicht übertrieben, sondern angemessen. 2 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hielt der damalige US-Außenminister George Marshall eine kurze Rede an der Harvard-Universität, mit welcher er einen „Pakt für eine außergewöhnliche strategische Großzügigkeit“ ankündigte.
Europa wurde als Ganzes gesehen. Die europäischen Staaten summierten ihren Bedarf auf 28 Mrd. Dollar. US-Präsident Truman kürzt den Betrag auf 17 Mrd., 13 % des US-Haushalts. Es wurden 13. Mrd. – davon 90 % Spenden! – an 16 Staaten verteilt, 25 % an Großbritannien, 20 % an Frankreich, 10 % an Italien, und 10 % an das soeben besiegte Deutschland.
Selbstverständlich verteidigten die USA ihre Interessen: die bedeutenden Absatzmärkte in Europa und die europäischen Staaten wurden zum Bollwerk gegen die Sowjetunion. Es begann der „kalte Krieg“, Begriff der auf das 1947 veröffentlichte Buch des Journalisten Walter Lippmann „The Cold War“ zurückgeht.
Der Marshall-Plan ermöglichte einen wahrhaft unglaublichen wirtschaftlichen Aufschwung und stärkte das europäische Wir-Gefühl. Seine Rede vom 5. Juni 1947 lässt sich auf die heutige Lage übertragen.
„… Eine der Hauptschwierigkeiten besteht in der ungeheuren Vielseitigkeit des Problems, welche die Öffentlichkeit durch Presse und Rundfunk zu hören bekommt, es dem einfachen Mann außerordentlich schwer macht, sich eine richtige Vorstellung von der Lage zu bilden. (…) Das Rezept besteht darin den bösartigen Kreislauf (vicious circle) zu durchbrechen und den Glauben der europäischen Völker an die wirtschaftliche Zukunft ihrer eigenen Staaten so- wie Europa in seiner Gesamtheit wiederherzustellen… (…). Logischerweise müssen die USA alles was in ihrer Macht steht unternehmen, um zu der Rückkehr normaler wirtschaftlicher Verhältnisse beizutragen, denn ohne diese sind politische Stabilität und Weltfrieden unmöglich. (…) Die Initiative muss von Europa ausgehen. Die Rolle unseres Landes sollte in freund- schaftlicher Hilfe bei dem Aufstellen eines europäischen Programms und in späterer Unterstützung eines solchen bestehen. Das Programm sollte von den europäischen Nationen gemeinsam aufgestellt und von einer Anzahl derselben, wenn nicht von allen, gebilligt sein.“
Am 9. Mai jährt sich zum 70. Mal die Rede von Robert Schuman, dem damaligen französischen Außenminister, mit welcher der Grundstein für die Montanunion gelegt wurde. Kohle und Stahl zusammenzulegen war Ausdruck eines beispielhaften politischen Muts: Kohle war mit Abstand die bedeutendste Energiequelle und Stahl unentbehrlich für den Wiederaufbau. 3 Jahre später wurden die deutschen Auslandsschulden mit dem Londoner Schuldenabkommen halbiert, um den Wiederaufbau nicht zu gefährden. Heute brauchen südeuropäische Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien unsere Solidarität. Dies ist auch ein Weg um den steigenden Populismus zu bremsen. Klaus Regling, deutscher Präsident des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), sagt am 2. April in der FAZ (und Le Monde): „Jetzt ist der Zeitpunkt für europäische Solidarität. Wenn wir den EU-Binnenmarkt schützen wollen, reicht es nicht, dass jeder seine eigene Volkswirtschaft rettet. Jeder EU-Staat hat ein Interesse daran, dass alle anderen EU-Länder ebenso diese Krise überwinden können.“
Wenn Europa weiter Bestand haben will, müssen Zeichen der Solidarität gesetzt und die Corona-Krise als Chance für Europa begriffen werden. Es handelt sich nicht nur um die Bewältigung der aufgebauten Schuldenberge, sondern der Zukunftsgestaltung, nämlich der Vorbereitung eines nachhaltigen Europas.
Christophe Braouet